Patrilokalität in der LBK verzweifelt gesucht – Neuer Anlauf nach dem Talheim-Desaster

Bereits vor Jahren wurde erfolglos versucht, mit den naturwissenschaftlichen Untersuchungen am sog. Massaker von Talheim der späten LBK uns glauben zu machen, Patrilokalität sei für die erste Ackerbaukultur in Mitteleuropa, die Linienbandkeramik (LBK), bewiesen. In meinem Buch „Archäologie und Macht“, erschienen Anfang 2012, veröffentlichte ich die fundamentale Kritik an der Talheimforschung. Vor kurzem informierte mich eine aufmerksame Leserin, dass Anfang des gleichen Jahres eine neue Studie veröffentlicht wurde, die erneut vorgibt, Patrilokalität für die LBK bewiesen zu haben.

Die Skelettreste von über 300 Individuen der LBK-Zeit aus verschiedenen Gräberfeldern von West- bis Osteuropa und aus verschiedenen Jahrhunderten (5450-5100 v.u.Z.) wurden dazu auf ihre Strontium-Isotopen untersucht. Strontium-Isotopen lassen eine Aussage darüber zu, wo ein Mensch seine Kindheit verbrachte.
Der ORF berichtete über diese Studie in einem Artikel mit der Überschrift „Die Ungleichheit ist älter als gedacht“: „Als die Landwirtschaft vor rund 7.500 Jahren aus dem Nahen Osten nach Europa gekommen ist, haben sich schnell soziale Unterschiede entwickelt. Die sesshaften Bauern vererbten Grund und Boden an ihre Söhne. Wer keinen begüterten Vater hatte, musste wandern und sich eine Siedlung suchen.“ Die alte These, die LBK sei von ihrem Wesen her patriarchalisch, wird also wieder aufgekocht. Das Ergebnis der Studie wird allerdings am Ende des Artikels relativiert, lässt sich die Patrilokalität doch nach wie vor nicht für die gesamte LBK feststellen. Es ist zu hoffen, dass die LeserInnen bis dorthin gelesen haben: „Man müsste Skelettserien aus der ganz frühen Phase der Linearbandkeramischen Kultur mit Skeletten aus der ganz späten Periode vergleichen.“ antwortet eine der AutorInnen der Studie, die österreichische Prähistorikerin Maria TESCHLER-NICOLA, auf die Frage, „wie und wann genau es zu einer stark hierarchisch geprägten Gesellschaft gekommen ist“, wie wir sie in der Bronzezeit vorfinden.
Die Ergebnisse der Originalstudie bestätigen natürlich die Ausgangsthese der Forscher. Die Strontium-Isotopen sind bei den Frauen variabler als bei den Männern, und weniger variabel bei denjenigen Männern, die mit einer Axt aus Stein begraben wurden. Daraus wird nicht nur auf Patrilokalität geschlossen, sondern auch, dass Männer, die mit einer Axt bestattet wurden, einst die besten Lößböden besetzt hatten.
Einer der Autoren dieser Studie, R. Alexander BENTLEY, vertritt, wie ich in „Archäologie und Macht“ schon erläutert habe, die These, dass in der LBK bereits Almwirtschaft betrieben wurde. Auch dies wird in der neuen Studie nochmals aufgegriffen. Die Männer von außerhalb könnten, so BENTLEY, auch Hirten gewesen sein, die ja keine Äxte benötigen. Dass auch Frauen auf Almen tätig sind, weiß er offenbar nicht. Die These gefällt ihm vor allem deshalb, weil Hirtengesellschaften stets patriarchal organisiert sind und er damit seine Überlegung verwerfen kann, dass die Ergebnisse auch einfach nur den Umstand reflektieren könnten, dass die Männer mit den Äxten zu den Gruppen gehören, die zuerst die Lößböden besetzten, sie also lediglich die bandkeramische Migration reflektieren.

Die Ergebnisse lassen, so die Forscher, auch einen anderen Schluss zu, nämlich, dass die Männer, die ohne Äxte bestattet wurden, zu ihren Ehefrauen zogen, und diese Frauen von den Axt-Männern von den besten Böden verdrängt wurden. Diese Interpretation lassen die Forscher aber nicht gelten, da solche Erklärungen weder archäologisch noch genetisch gestützt seien. Sie tun nicht nur so, als gäbe es die archäologischen Befunde von Marija GIMBUTAS nicht, sondern sie haben die Chuzpe, ausgerechnet die Forschungsergebnisse von Sarah Blaffer HRDY „Mütter und andere“ (2010) für ihre These zu vereinnahmen. HRDY sagt, und dass wird von ihnen offenbar anerkannt (!), dass wir Menschen im Schutz matrifokaler Gruppen der Altsteinzeit erst zu dem sozialen und kreativen Wesen wurden, das wir heute sind. So ärgerlich dies für alle Seiten ist, es wird damit indirekt bestätigt, dass matrifokale Gruppen vom aufkommenden Patriarchat gewaltsam verdrängt wurden. Allein der Zeitpunkt ist noch strittig.

Die Forschergruppe versucht, anhand von insgesamt sieben Gräberfeldern die vermeintliche Patrilokalität der LBK nachzuweisen. Besagte Leserin lieferte mir dankenswerterweise dazu einen wertvollen Hinweis: „Wie Peter-Röcher jedoch zeigen konnte, handelt es sich bei den bandkeramischen Gräberfeldern lediglich um einen bestimmten Ausschnitt aus einer ganzen Anzahl von praktizierten Bestattungssitten, die nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit den heutigen Verhältnissen in der Literatur unverhältnismäßig große Beachtung fanden. Die im Vergleich zu den Siedlungsfunden geringe Zahl der Gräberfelder, zugleich die Vielzahl der intramuralen Bestattungen gerade von Frauen und Kindern ist dabei ebensowenig berücksichtigt worden wie die Funde einzelner Knochenfragmente, die ebenfalls für Sekundärbestattungen sprechen“, stellt Ina WUNN in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1999 fest. Die Leserin schreibt mir: „Wenn jetzt nur Friedhöfe untersucht werden, wird logischerweise ein systematischer Bias produziert, da ja diejenigen eng miteinander verwandten und in besonderem Maße mit dem jeweiligen Dorf verbundenen Frauen nicht erfasst werden können. Allein deswegen dürfte der Aussagewert der Studie eher als gering einzustufen sein.
Recht hat sie, es handelt sich bei den Skeletten der Studie keineswegs um einen repräsentativen Querschnitt aus der LBK, sondern um schon von den LBK-Leuten selbst vorsortierten Individuen. Auch die Auswahl der Gräberfelder selbst könnte mehr oder weniger bewusst ergebnisorientiert getroffen worden sein. Dieses fundamentale Problem bleibt nicht das einzige…

Natürlich hat es mich interessiert, die Studie genauer unter die Lupe zu nehmen – so wie ich es schon mit den Talheim-Studien getan habe – und tatsächlich bin ich fündig geworden.
Auf den ersten Blick ist nicht sichtbar, wie viele Männer und Frauen in jedem Ort untersucht wurden, ein ausgewogenes Verhältnis wäre wünschenswert. Warum müssen wir erst mühsam anhand des online zur Verfügung gestellten Materials selbst nachzählen? Das Dataset S1 ist nicht chronologisch aufgelistet, wie es sinnvoll wäre, sondern alphabetisch, so dass ich erst einmal in dieser Beziehung aufgeräumt habe. Die folgende, so aus dem Material generierte Tabelle zeigt auf, dass die in Dataset S1 vermerkten Individuen-Anzahlen (n-DS1, Spalte links) in Teilen nicht mit den Zahlen im Text der Studie (n-angeb, Spalte links) übereinstimmen.

Gräberfeld
(Jahr v.u.Z.)
Männer

Männer
(unsicher)

Frauen

Frauen
(unsicher)

Kinder Unbestimmt
Vedrovice (5450)
n-DS1=78
(n-angeb=64)

19

7

30

2

18

2

9A

1AA

1A

2A

1AA

Aiterhofen (5300)
n-DS1=63
(n-angeb=64)

26

9

20

4

2

2

11A

2A

2A

2A

1A

Ensisheim (5200)
n-DS1=34
(n-angeb=34)

15

10

2

6

1

6A

2AA

Souffelweyersheim (5200)
n-DS1=18
(n-angeb=18)

6

3

3

6

2A

1A

Kleinhadersdorf (5200)
n-DS1=33
(n-angeb=34)

11

9

8

5

6A

1A

Schwetzingen (5100)
n-DS1=101
(n-angeb=103)

34

7

48

1

11

12A

2A

Nitra (5100)
n-DS1=62
(n-angeb=62)

11

6

21

4

20

7A

1A

2A

Summen Individ.

122

32

141

12

55

27

154

153

55

27

n-DS1=389
(n-angeb=379)

307

82

Summen Äxte

53A

6AA

3A

3A

3A

5A

3A

1AA

LEGENDE:
n-DS1 = Anzahl nach Tabelle Dataset S1
n-angeb = angebliche Anzahl nach Studien-TEXT
A = 1 Axt pro Bestattung
AA = 2 Äxte pro Bestattung
Rot = nicht übereinstimmend
Grün = bemerkenswert

Die Studie wurde offenbar wieder einmal schlampig verfasst. Oder gibt es einen anderen Grund für die Diskrepanzen? Wir wissen es nicht, aber so wird es uns erschwert, die Studie nachzuvollziehen. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit sämtlicher Zahlen ist damit auf jeden Fall beschädigt. Schon bei den Talheimer Befunden wurde nachweislich eine Frau zum Mann gemacht und ein Mann hinzuerfunden, ob dies hier auch der Fall ist, lässt sich nicht ohne Weiteres erkennen.

Das Geschlechterverhältnis ist bei jeden Ort unausgewogen. Vielleicht glauben die Macher der Studie, auf diese Weise das Ergebnis für die weiblichen Individuen überzeugender, repräsentativer zu gestalten. Nach welchem Kriterium aber die Männer ausgewählt wurden, außer dem der Untersuchbarkeit natürlich, ist unbekannt.
Interessant ist, dass im Text der Studie explizit nicht mitgeteilt wurde, dass auch Frauen und Kinder mit Äxten bestattet wurden. Dies erweckt beim Leser natürlich den Eindruck, als handele es sich bei den Äxten um Herrschaftssymbole.

Wie immer bei Untersuchungen an sehr alten Knochen gibt es auch hier eine Fehlerquote. Wir können uns nach den strengen Regeln der Anthropologie nur mit 75-95%iger Sicherheit darauf verlassen, dass die Geschlechter der als sicher geltenden Befunde wahrheitsgemäß bestimmt wurden. Es fehlen zudem jegliche Nachweise von Verwandtschaftsverhältnissen. Sogar die Methode der Strontium-Isotopen-Bestimmung ist keine fehlerfreie Methode. Für die Zuverlässigkeit des Messergebnisses ist entscheidend, dass das untersuchte Individuum nicht regelmäßig ortsfremde Nahrung zu sich genommen hat  (siehe dazu A.u.M., S.165 FN 31).

Wie dem auch sei, zwei von sieben untersuchten Gräberfeldern, nämlich Aiterhofen und Ensisheim, die nicht zu den jüngsten Gräberfeldern zählen, zeigen nach Aussage der Forscher eine signifikante Abweichung von ihrer Patriarchatsthese, was sie jedoch nicht weiter kümmert. Meine Leserin fasst ihre Beobachtungen treffend zusammen: „Nur ganz wenige Frauen sind für die statistisch signifikante Abweichung verantwortlich. Das ist nicht das Muster, dass ich bei patrilokalen Heiratsregeln erwarten würde.

Selbst wenn die Fehlerfaktoren Technik, Alter und Mensch ausgeschlossen werden können, bestätigt die Studie letztlich nur das, was die Patriarchatsforschung schon länger weiß, nämlich dass mit dem Patriarchat der Untergang der Bandkeramik eingeleitet wurde. Wenn auch gerade die ältesten Befunde der Studie aus Vedrovice 5450 v.u.Z. angeblich besonders signifikant sind, spricht das nicht dagegen. Vedrovice liegt im Osten des LBK-Gebietes, von wo sich die Kultur verbreitet hat, nachdem sie voll ausgebildet war, hat also ihrerseits schon eine längere Entwicklung hinter sich. Der Befund könnte ein Licht auf die schnelle Ausbreitung der LBK nach Westen werfen, die der herrschenden Lehre immer noch unerklärlich erscheint. Ich vertrete in „Archäologie und Macht“ die Ansicht, dass die schnelle Ausbreitung der LBK auch von den Mesolithikern mitgetragen wurde, die ebenfalls matrifokal, aber nicht sesshaft lebten, und sich den LBK-Leuten anschlossen. Ich möchte nicht ausschließen, dass der Grund, dass sich die LBK-Leute überhaupt auf den Weg machten, darin lag, dass sie sich der Patriarchalisierung entziehen wollten. Aber aufgrund der unsauber gemachten Studie lassen sich keine sicheren Aussagen diesbezüglich treffen.

Zu guter Letzt ist anzumerken, dass auch in matrilokalen Gruppen die Männer an ihrem Geburtsort leben und ihr Heim nur verlassen, wenn sie eine geliebte Frau besuchen. Der Befund sagt aus, dass die einheimischen Männer typischerweise Äxte ins Grab bekamen und die nicht einheimischen Männer nicht, doch auch davon gibt es Ausnahmen. Die ortsfremden Männer waren offenbar nicht der Sippe zugehörig und waren vielleicht exogame Liebhaber, was die hohe Zahl der ortfremden Männer erklären kann. Das könnte wiederum bedeuten, dass „exogam tätige“ Männer eher nicht an der täglichen Arbeit in der Sippe ihrer Liebhaberin teilnahmen und ohne Werkzeug (bzw. Waffe) das fremde Sippengebiet betreten mussten. Es bestand dabei offenbar eine fifty-fifty-Chance am Wohnort der Geliebten zu sterben. Weiter könnten unter den untersuchten Skeletten viele Mesolithiker sein, was die fremden Strontium-Isotopen leicht erklären würde. In irgendeiner Weise müsste sich auch in den Gräberfeldern niederschlagen, dass schon zur Zeit der LBK fahrende Händlerinnen und Händler sich weit von ihrer Heimat entfernten und nicht zurückkehrten. Dass die ortsfremden Frauen zum Zwecke der patriarchalen Ehe an den Ort gezogen sind, ist nicht beweisbar. Nachdem matrifokalen Modell bandkeramischer Ausbreitung, wie ich es in „Archäologie und Macht“ beschrieben habe, waren Frauen mit ihren Sippen unterwegs auf der Suche nach neuen Siedlungsplätzen.

Die Studie beweist weder Patrilokalität, noch, dass die Felder den Männern gehörten, noch dass die Auswärtigen unterdrückt wurden. Letztlich wissen wir nicht, welche kostbaren Gegenstände aus den Gräbern längst verrottet sind, z.B. Stoffe oder hölzerne Objekte, die mindestens genauso wertvoll erachtet worden sein können wie die Äxte. Von einer stark hierarchischen Gesellschaft kann also keine Rede sein, und es ist auffällig, dass sich die Forscher nicht wundern, dass sich in den Bauwerken keine Hierarchie bemerkbar macht, dies auch noch lange nach der LBK, wie in „Archäologie und Macht“ erläutert.

Literatur:

Bentley, R. Alexander; Bickle, Penny; Fibigerc, Linda; Nowell, Geoff M.; Dale, Christopher W.; Hedges, Robert E. M.; Hamilton, Julie; Wahl, Joachim; Francken, Michael; Grupe, Gisela; Lenneish, Eva; Teschler-Nicola, Maria; Arbogast, Rose-Marie; Hofmann, Daniela; Whittle, Alasdair: Community differentiation and kinship among Europe’s first farmers. In: PNAS 12.06.2012. Vol. 109 No. 24, S. 9326–9330 http://www.pnas.org/content/109/24/9326.full

Peter-Röcher, Heidi: Kannibalismus in der prähistorischen Forschung. Berlin/Bonn 1994 (dort bes. S. 103)

Uhlmann, Gabriele: Archäologie und Macht. Zur Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichte. Norderstedt 2012 http://www.amazon.de/dp/3844814205

Wieselberg, Lukas: Die Ungleichheit ist älter als gedacht. Online-Dokument vom 29.05.2012. http://science.orf.at/stories/1699108/

Wunn, Ina: Götter, Mütter, Ahnenkult. Neolithische Religionen in Anatolien, Griechenland und Deutschland. Dissertation an der Gemeinsamen Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover. 1999 (dort bes. S. 228)
http://d-nb.info/958530386/34