Der Turm – ein Phallussymbol?


Neue Erkenntnisse zum Turm von Jericho

Als älteste Stadt der Welt ist Jericho (Tell es-Sultan) berühmt. Jericho liegt im Westjordanland ca. 12 km nordwestlich des Toten Meeres und des Jordan und in ca. 70 km Entfernung zum Mittelmeer am Fuße des Berges Jebel Quruntul, der seit jeher als heiliger Berg gilt. Eine Quelle innerhalb der östlichen Längsseite der Mauer versorgte Jericho mit Frischwasser. Die frühesten Funde (ca. 9.000 v.u.Z.) stammen aus dem Mesolithikum. Drei große Steinblöcke, von denen zwei durchbohrt sind, könnten ein Schrein gewesen sein, dessen Symbolik mit dem Mond in Zusammenhang stehen könnte. Kontakte zur Natufien-Kultur der mittelmeerischen Carmel-Höhlen werden aufgrund von Funden vermutet, zu denen eine Harpune aus Knochenmaterial gehört. Aus der frühesten neolithischen Phase, welche jedoch noch keine Keramik aufweist (PPNA, ca. 8.500-7.300 v.u.Z.), wurden hüttenartige Strukturen gefunden, die immer wieder aufeinander aufbauten. Klar als Häuser identifizierbare Strukturen waren jüngere Rundbauten, die in den Boden eingetieft waren und daher nur Wände geringer Höhe benötigten. Die dafür hergestellten Lehmziegel waren quer gerieft und erinnern daher an Brot. Die Häuser, sog. Bienenkorbhäuser, die über eine Treppe betreten wurden, waren mit einem kuppelartigen Dach aus Geäst überdeckt. Die Fläche dieser Bauten nahm wesentlich mehr Platz ein als die Vorgänger-Hütten. Eine erste Zunahme der Bevölkerung ist daran ablesbar. Die Menschen ernährten sich erstmals von Ackerfrüchten, der Fischerei und der Jagd auf Gazellen und Füchse. Domestizierte Tiere konnten für diese Schicht nicht nachgewiesen werden.

Eine Wallmauer von ca. 2-3,5m Höhe umgab das Areal. An der inneren Westseite der Mauer war ein über 9m hoher Turm errichtet, der massiv ausgebildet war und nur eine schmale Treppe zu einem Austritt aufnahm. Diese Siedlungsphase währte zudem etwa 1000 Jahre, eine enorme Zeitspanne, die auch die neolithische Stadt Çatal Höyük (ab 7.400 v.u.Z.) in Anatolien friedlich überdauerte. Danach erst war Jericho wie auch Çatal Höyük für einige Zeit verlassen.

Tower of Jericho
Der Turm von Jericho

Dieser Turm wurde bisher meist als Wehrturm angesehen, die Mauer als Wehrmauer. Verbunden ist damit die Vorstellung, Jericho hätte sich bereits in vorkeramischer Zeit gegen Kriegsfeinde verteidigen müssen und eine hierarchische Struktur mit einer adeligen Kriegerkaste hätte die Gesellschaft Jerichos bestimmt. Dafür fehlen jedoch jegliche weitere Indizien, wie Massengräber oder zumindest massenhaft gewaltsam zu Tode Gekommene und Waffenfunde in Gräbern oder anderswo.
Die israelischen Archäologen Roy Liran und Ran Barkai wollten sich damit nicht zufrieden geben. Sie fragten sich, warum der Turm ausgerechnet an der Westseite der Mauer errichtet wurde und vermuteten einen kosmisch-geografischen Zusammenhang. Tatsächlich fanden sie heraus, dass der Schatten des konischen Gipfels des Jebel Quruntul, der leicht nordwestlich von Jericho liegt, genau zur Sommersonnenwende den Turm bedeckt.

Plan der Lage Jerichos mit den Messlinien nach Liran/Barkai (2008)

Umso erstaunlicher ist ihre Interpretation der Entdeckung, unterscheidet sie sich doch nicht wesentlich vom althergebrachten, patriarchal geprägten Bild. So glauben sie, dass die Bewohner vor „Mächten der Dunkelheit“ Angst hatten und sich dagegen mit dem Turm und der Mauer schützen wollten, der Turm sei ein Bauwerk der Macht über die Natur. Einige „Individuen“ hätten auf diese Weise die Bevölkerung unter Kontrolle bekommen.
Es steht außer Frage, dass in späteren Zeiten männliche Priester im Dienste der militärischen Macht standen, und Königreiche mit ihrer politischen Theologie festigten, indem sie der Bevölkerung mittels Mythographie einen Bären aufbanden. Für ein solches Szenario besteht hier aber kein dringender Anlass.

Der Turm und die Psychologie Freuds

In Jericho haben wir den ersten Turm der Menschheit vor uns. Alle weiteren Türme waren nicht nur einer steten Funktionserweiterung unterzogen, sondern auch einem Bedeutungswandel. Funktion und Semantik/Symbolik waren aber stets verbunden. Wir finden über die Jahrhunderte Türme als Wehrtürme, Bergfriede, Glockentürme, Wohntürme, Wohnhochhäuser, Bürohochhäuser, Beobachtungstürme, Leuchttürme, Silos, Mühlen, Industrieanlagen, Sendemasten, Sportanlagen etc. aber auch als Menhir, Obelisk, Säule oder Stele. Alle diese Türme haben auf ihre Weise etwas mit Macht zu tun, mit dem Sieg über die Natur. Seit Sigmund Freud ist es in Mode gekommen, den Turm als Phallussymbol zu erkennen. Er wird seitdem exklusiv mit männlichen Eigenschaften verknüpft und steht für Schutz, Mut, Machbarkeit, Machtanspruch aber auch Größenwahn und Technikherrlichkeit. Er ist das Bauwerk schlechthin, welches für patriarchale Architektur steht.

Der Turm in der Mythologie

Ein Turm verbindet auch die Erde mit dem Himmel, er ist ein steingewordener Heiliger Lebensbaum. Mit dem Turmbau versuchen Menschen, dem Himmel möglichst nahe zu kommen. Aber ist das allein der Grund, warum Türme in Mythen und religiösen Kontexten ein Rolle spielen? Ist beispielsweise die Höhe über dem Erdboden wirklich entscheidend für die Botschaft der uns allen bekannten Märchen „Dornröschen“ und Rapunzel? In diesen Märchen macht der Mann eher eine armselige Figur, er ist Statist in einem ansonsten von weiblichen Lebensaspekten motivierten und von Frauen vorangetriebenen Handlungsstrang. Hier steht der Turm für Isolation, Keuschheit, Geheimnis, Prüfung und Reife, und der Frau kommen „negative“ Eigenschaften zu: Die junge Frau Dornröschen/Rapunzel ist naiv, neugierig und ungehorsam. Die mit Rapunzel schwangere Mutter hat in ihrem Mann einen Helfer statt einen Herrn, die alte Frau Gothel – die verteufelte Muttergöttin – ist eine Allomutter (Blaffer Hrdy 2010), die der leiblichen Mutter alle Arbeit abnimmt und die zugleich das negativste Bild abgibt, da sie alles unter Kontrolle zu haben scheint, wie die böse Fee im „Dornröschen“ – ebenfalls die verteufelte Muttergöttin -, die der Prinzessin den Tod wünscht, und ihre Entsprechung, die hinterlistige Spinnerin im Schlossturm; alles Zuschreibungen, die die kranke patriarchale Psyche hervorgebracht hat. Genauso gut hätte Rapunzel von einem Mann in einem unterirdischen Verließ oder in einem Haus gefangen gehalten werden können – im Patriarchat an der Tagesordnung – wie es der König im „Dornröschen“ tut. Aber der Zopf und das Spinnrad sind Symbole weiblicher Kraft. Hat also auch der Turm etwas mit ihr zu tun?

Im Mythos von Danaë, der altgriechischen Vorlage für das Märchen „Rapunzel“, und wohl auch von „Dornröschen“, bekommt der Turm eine überraschend andere Bedeutung: Der König von Argos sperrt seine Tochter Danaë in einen Turm aus Bronze, weil die Orakelpriesterin von Delphi ihm geweissagt hatte, dass er ohne männlichen Erben bliebe, sein Enkel ihn aber töten würde. Zeus begehrt Danaë und lässt goldenen Regen durch das Dach regnen, worauf sie mit Perseus schwanger wird.

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Danae empfängt den „goldenen Regen“ des Zeus,
Böotische Vase (ca. 450-425 v.u.Z., Louvre Paris)

Der heilige Turm stand demnach ursprünglich für die Vagina. Dass die Form des Phallus an das innere Geschlechtsorgan der Frau angepasst ist – und nicht umgekehrt – kommt in den patriarchalen Denkgewohnheiten gar nicht mehr vor. Auch der Turm zu Babel – die Zikkurat der „Hure“ Babylon – war ein weibliches Heiligtum, bevor Marduk zum Hochgott stilisiert wurde und Ishtar ihre überragende Bedeutung verlor.

Ein in den Boden gegrabener Turm – der Brunnen.

Baulich und symbolisch ist der Brunnen mit dem Turm verwandt. Er ist als Holzkonstruktion schon in der ältesten ackerbäuerlichen Kultur Europas, der Linienbandkeramik (ab ca. 7.500 v.u.Z.), nachweisbar. In der Jesreelebene/Israel wurde ein 8.500 Jahre alter und 8 m tiefer Brunnen entdeckt, der teils in den Fels gehauen und teils gemauert war. Der älteste Brunnen (ca. 9000 Jahre alt) wurde in Zypern gefunden. Im Märchen „Frau Holle“ wirkt der Brunnen, der in die Unterwelt führt, wie ein Geburtskanal, aus dem Marie völlig verwandelt, wie neu geboren, hervorgeht. Heilige Brunnen bzw. Quellen sind in der ganzen Welt bekannt. Quellnymphen oder die Drei Matronen der Kelten stehen für die Verbindung des lebenspenden Wassers mit der Göttin in ihren Aspekten Leben, Tod und Regeneration.

Der Turm und der Tod

In Jericho haben wir mit dem Turm, der Stadtmauer, der Quelle sowie den runden Häusern eine Metapher für die Große Mutter vor uns. Zu diesem Szenario gehört natürlich auch der Jebel Quruntul, der mehr als ein Schattenwerfer ist. Er verschlingt die Sonne. Der Untergang der Sonne und auch der Winter waren in den ältesten Mythen mit dem Tod des Vegetationsgottes gleichgesetzt. Seine garantierte Wiederkehr, für die die Große Mutter sorgte, war für die Ackerbauern überlebenswichtig. Berge sind weltweit Muttersymbole, so heißt der Mount Everest in Nepal und Tibet „Mutter der Welt“. In Griechenland befanden sich auf den Bergen Heiligtümer der Muttergöttinnen, die Höhlenheiligtümer waren und den Todesaspekt der Großen Mutter symbolisierten. Der Zutritt zu diesen Höhlen war Männern verboten. Am Jebel Quruntul sind unzählige Höhlen, teils von Menschenhand bearbeitet, in denen in nachchristlicher Zeit „heilige Männer“ wohnten. Der Berg sei nach der Bibel der Ort gewesen, wo Jesus vom Teufel versucht wurde. Heute befindet sich dort auch ein in den Berg gebautes Kloster.

Im Zoroastrismus Persiens (Zarathustra, ca. 1.800-600 v.u.Z.) waren die sog. Türme des Schweigens der Ort des Totenkultes. Hier wurden die Toten aufgebahrt und den Geiern, die der Muttergöttin heilig waren, dargebracht. Der Geier-Totenkult war schon im neolithischen Çatal Höyük auf Fresken abgebildet. Eine solche Nutzung ist auch für den Turm von Jericho wahrscheinlich.

Die Stadt als Muttersymbol

Der Platz des Turms als Ort des Todes und der Wiedergeburt war wohl überlegt. Zusammen mit der Quelle als Ort des Lebens waren die Begrenzungspunkte der Stadt gefunden. Mir ist aufgefallen, dass der Grundriss der Stadtmauer eine Form aufweist, die oft in Höhlen, auf Keramik, an Schmuck etc. gefunden wird, und meist als Vulva oder Uterus angesprochen wird, nicht aber im Fall der Stadtmauer.

Vulves gravees - La Ferrassie - MNP
Vulven am Abri La Ferrassie (Altsteinzeit: Aurignacien und Gravettien)

Die Stadt als sorgende Mutter ist eine Allegorie, die sich bis in jüngste Zeit erhalten hat. Jericho war gewissermaßen Vorläufer von unzähligen, planmäßig angelegten Stadtgrundrissen bis in die Zeit des Mittelalters, die nicht, wie es wehrtechnisch sinnvoll gewesen wäre, kreisrund waren, sondern längsoval. Für Jericho ist jedoch noch keine Handelsstraße belegt, welche die Stadt der Längsachse nach durchschnitten hätte, wie es bei den mittelalterlichen Städten der Fall ist.

Vorläufige, traurige Höhepunkte waren die Hexentürme der Inquisitionszeit und der Narrenturm der Wiener Psychiatrie, wo bekanntermaßen die Falschen behandelt wurden.